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  • Thema Neue Technologien

Kennt noch jemand „Fühlungsvorteile“?

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  • Rubrik Kommentar
  • Veröffentlichungsdatum 04.07.2023
Dr. Christian Hammel
Rechenzentrum, Nahaufnahme
@Lars Kienle, Unsplash

Kennt noch jemand den Begriff „Fühlungsvorteil“? Im Erdkundeunterricht der frühen 80er war das ein prüfungsrelevantes muss-man-kennen-Wort und die Antwort auf die Klausurfrage, warum neue Kaufhäuser immer da gebaut werden, wo schon zwei davon stehen. (Erklärung: weil da die Kunden schon vor Ort sind).

Während Kaufhäuser gerade verschwinden, bleibt die Logik der Fühlungsvorteile bestehen. Das ist der Hintergrund, warum ziemlich alle Regionen dieser Welt Clusterbildung als eines der Ziele ihrer Wirtschaftspolitik verfolgen, in Berlin noch etwas kleinräumiger auch als „Zukunftsorte“. Dass die Idee mit den Zukunftsorten kein Wunschtraum der Volkswirtschaft und der Politik ist, sondern wirklich funktioniert, konnten wir vor einiger Zeit mit einer Landkarte auf Basis der Daten unserer Innovationserhebung zeigen. In einer wissenschaftlichen Arbeit haben das das ZEW und die TU Berlin nachgewiesen.

In Teilen der IKT scheint dies offensichtlich ebenfalls zu gelten: Unternehmen aus dem Hard- und Softwarehandel oder solche, die Kundennetzwerke warten oder Standardsoftware customizen, sind eher in Kundennähe oder in der Nachbarschaft der Forschung oder ihrer eigenen Branche anzutreffen als dort, wo es hauptsächlich Gegend gibt. Schon nicht mehr ganz so einfach ist das bei Middleware, Clouddiensten oder IKT-Beratungen. Dort reicht es aus, wenn der Vertrieb auf der Reise ist. Bei den Digitalnomaden, deren Job man von überall aus machen kann – gemeint sind meist einzelselbständige Auftragsentwickler, Blogger, Streamer, IT-Trainer und ähnliche Gewerbetreibende – spielen Fühlungsvorteile keine Rolle mehr und Berlin hat auf Grund seiner liberalen Urbanität Anziehungskraft für diese. Inzwischen buhlen auch viele Länder und Regionen mit urlaubshafter Lebensqualität um sie. Aktuell hat sogar das Industrieland Italien solche Pläne, samt steuerlicher Förderung, angekündigt.

Spannend und offen scheint mir das Rennen um Ansiedlungen im Bereich der IKT-Infrastruktur. Gemeint sind nicht die Kabel und Funkmasten – die müssen selbstverständlich genau dort sein, wo Netzanschlüsse benötigt werden – sondern die Rechenzentren, die den Nutzen des Internets überhaupt erst bereitstellen, also die Rechenzentren von Speicherplatzhostern, Webhostern, Mailhostern, Archivierungshostern, KI- Cloud- und anderen SaaS-Anbietern, Streamingdiensten und wie sie alle heißen. In diesem Bereich sehen wir gerade gegenläufige Trends.

Für Rechenzentren in der Nähe der Kunden spricht der Trend zum Edge-Computing: Da sich Elektronen im Kabel und Photonen in der Glasfaser deutlich langsamer als die Lichtgeschwindigkeit bewegen und da sämtliche zwischen Rechenzentrum und Anwendung nötigen Transport-Geräte wie Router, Switches und ähnliche Geräte Zeit benötigen, um Datenpakete von einer Netzwerkkarte auf eine andere zu leiten, ergeben sich Signallaufzeiten, die für die Anwendungen relevant sein können. Das führt dazu, dass sogenannte Echtzeit-Anwendungen immer nur eine quasi-Echtzeit erreichen können und dazu, dass die Rechenzentren (oder auch einzelne Steuerrechner oder Leitwarten) möglichst nahe am Ort der Anwendung stehen sollten, wenn Anwendungen zeitkritisch sind. Dies nennt man Edge-Computing (= dezentral = am Rande (Edge) des Netzes).

Für Rechenzentren weit weg vom Ort der Endanwender spricht deren Stromversorgung: Dass Rechenzentren eine Menge Strom verbrauchen, dürfte bekannt sein. Deshalb ist hinsichtlich ihres Standortes technisch relevant, dass am Standort ausreichend und zuverlässig viel Strom, wenn möglich auch noch in grün, beziehbar ist. Dies ist am einfachsten am Standort der Stromlieferanten realisierbar. Berichte, dass die großen Internetkonzerne neue Rechenzentren gerne neben Wasserkraftwerken bauen, sind in den Medien entsprechend häufig. Wirtschaftlich relevant bei der Standortwahl ist zusätzlich der Strompreis, der sich für Industriekunden in Europa um einen Faktor 3 unterscheidet, international noch deutlicher.

Fazit:
Die Standortfaktoren für etliche Bereiche der IKT folgen nur in Teilen bisherigen Logiken. Obwohl IKT zum Dienstleistungsgewerbe zählt, ist keineswegs in allen zugehörigen Branchen Kundennähe oder das Vorhandensein von Clustern der wichtigste Standortfaktor. Aufschluss darüber, wie stark der Einfluss von Lebensqualität oder Strompreis wirklich ist, kann letztlich nur die Wissenschaft liefern. Darauf sind wir gespannt. Erste Einblicke, wie wichtig das Thema Energieversorgung für Berliner Betreiber von IKT-Infrastruktur ist, erhoffen wir uns von einer Studie zu diesem Thema, die wir gerade begonnen haben. Berliner IKT-Betreiber, die uns dafür relevante Informationen geben können, sind herzlich eingeladen, sich durch Interviews oder Daten daran zu beteiligen. Über Betriebsgeheimnisse wie die exakten Standorte oder die genaue Technikausstattung wollen wir Sie selbstverständlich nicht ausfragen.

Porträt von Christian Hammel

Dr. Christian Hammel

Dr. Christian Hammel leitet den Bereich Innovation Policies & Research.